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Annette Steinsiek: Weiße Schwäne und schwarze Schafe. Von Quantitäten und Qualitäten. Am Beispiel des Kommentierten Gesamtbriefwechsels Christine Lavants (Vortrag, Science Week 2002, Innsbruck) |
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Jede Beschäftigung sucht ihre Begründung in der Nützlichkeit für das
Universum, und jedenfalls ist der "Gesamtbriefwechsel" ein Schlüsselwerk zu den meisten
Fragen dieser Welt. Im Ernst: die Briefausgabe bietet die Lektüre wunderbarer Texte
einer außergewöhnlichen Person und Autorin - aber hier soll sie als wissenschaftliches
Modell gezeigt werden, weil sie auf den gleichen Methoden von Zusammenführung von
Dokumenten beruht wie das Archiv selbst und ebenfalls auf Erkenntnis daraus hofft.
Ich behaupte: der Bereich im Kopf, in dem Gewohntes, einfach Übernommenes, zu schnell
Vereinbartes, gern Genommenes sich tummeln, ist groß und zudem imperialistisch - er
verdrängt die Zweifel, verdrängt die Frage, wie ich zu Wissen komme, wie ich dieses
Wissen verwende, wie ich es kritisch überprüfe. Die Weltsicht hängt auch von den Gegenständen ab, von denen man umgeben ist, mit denen man sich umgibt. Ich behaupte: Druckwerke befördern Meinungsbildung, -pflege, -mache - Autographen (also eigenhändig Geschriebenes) repräsentieren die Individualität. Wie entsteht überhaupt Wissen? Eine gewisse, eine gewissenhafte Menge von Fakten bzw. Dokumenten muß zusammengefügt werden. Und immer entscheiden deren einzelne: Sie können das Zünglein an der Waage sein, d.h. sie können sich zusammenfügen und im statistischen Sinne eine Wahrscheinlichkeit bilden, oder sie können der Dorn am Luftballon sein, d.h. das neue Element, das bisher Angenommenes entkräftet. (Stellen Sie sich jetzt bitte ein Bild vor, auf dem Sie eine Menge weißer Schwäne sehen und darin ein armes schwarzes Schaf...) Es gilt Poppers Beispiel, daß ein schwarzer Schwan genüge, um zu beweisen, daß nicht alle Schwäne weiß sind - aber schwarz und weiß sind auch leicht unterscheidbar, leichter zu unterscheiden als Tonarten, Argumente, Mitteilungen... Poppers Prinzip der Falsifikation (also daß man genau genommen nur sagen kann, daß etwas nicht gilt) ist zwar wissenschaftstheoretisch unbedingt sinnvoll - aber es bleibt das Bedürfnis und doch wohl auch die Notwendigkeit, Zusammenhänge, Orientierungen, begehbare Wege im Chaos zu finden. Und das, ohne zu bewerten - ohne den schwarzen Schwan zum schwarzen Schaf zu machen und zum Störenfried in der beschlossenen Ordnung der weißen Schwäne. Doch wie kommt es überhaupt zu einer relevanten Materialmenge? Vielen Arbeiten muß die
Sammlung der Dokumente vorausgehen, und am aufwendigsten ist dies naturgemäß bei
Briefeditionen. Dieser Teil der Produktion einer Autorin, eines Autors ist in alle Welt
verstreut und nur mühsam wieder zu vereinen. Liegen Briefe schon in Archiven, in
aufgearbeiteten Nachlässen von AutorInnen, hat man es leichter. Heute haben die
meisten, jedenfalls die besseren Literaturarchive genauere Verzeichnisse ihrer Bestände,
lange war das Deutsche Literaturarchiv in Marbach das Vorbild, hier erarbeitete Ingrid
Kussmaul mit einem Verzeichnis der Nachlässe und Sammlungen ein unschätzbares
Instrument für die Forschung. So tragen Archive mit ihren Nachlässen, ihren Sammlungen
und ihren Beständen sowie deren Verzeichnung zur Erfaßbarkeit und Erkenntnis
kultureller Zusammenhänge bei. Uns allen dreht die Objektivität eine Nase. Auch ein Archiv ist von Auswahlstrukturen betroffen: es muß auswählen, was es sammelt, innerhalb der Nachlässe gibt es ungewollte oder beabsichtigte Lücken (man kann - ich gebe zu: grob - unterscheiden zwischen "Schlaganfallnachlässen" - wenn der Tod die Personen überrascht und sie ihren Nachlaß nicht mehr gestalten können - und "Planungsnachlässen", die von den Autorinnen und Autoren selbst oder ihren Nachkommen schon ausgewählt an Archive gegeben werden). Aber auch hier gilt: jeder Nachlaß ist anders - und erinnert daran, daß das Individuelle zu berücksichtigen ist. Die Dokumente und Quellen sagen nicht die Wahrheit. Aber - das behaupte ich - ob für die Information Auswahl und Betonung Regie führen (wie in Politik und schlechter Wissenschaft) oder ob man Quellen bewahrt, zusammenführt, kritisch zueinander in Beziehung setzt, lückenlos und kritisch ediert, die Aussage in diesem Werden begleitet, macht einen großen Unterschied. Das Archiv trägt seinen Teil an Aufklärung (während der Französischen
Revolution wurde ein Gesetz erlassen, das im Grundsatz jedem "Bürger" den freien Zugang
zu den staatlichen Archiven ermöglichen sollte), die Verwaltung der
Erinnerungsfähigkeit wird so eine demokratische Kontrollinstanz. Nun werden Sie sagen:
das mag für Staatsarchive gelten, für politische Archive. Verbleiben Literaturarchive mit
ihrem Material nicht in ästhetischen Kategorien? Zunächst: in den Nachlässen
von Autorinnen und Autoren findet sich Material, das sehr wohl politische Hintergründe
aufzeigt (AutorInnen waren immer ein Lieblingsobjekt autoritärer Strukturen). Dann:
vielleicht gerade AutorInnen und deren Nachlässe fordern dazu heraus, die Grenzen
zwischen Fiktion und dem zu bestimmen, was es dann doch nicht gibt - der Wirklichkeit
(wir denken etwa an Stephan Hermlin: seine von ihm in Erzählungen und Romanen
vermittelten Verweise auf sein Leben - "autobiographisch" nennt man das gefährlich -
entsprachen nicht den Dokumenten dieses Lebens). Auch AutorInnen versuchen der
Öffentlichkeit ein Bild von sich zu vermitteln, genau wie die Öffentlichkeit sich
ein Bild der Person macht. Beide verfolgen dabei je eigene Absichten. Ein Archiv bewahrt und verzeichnet Material, es hält es für die forschende oder
ernsthaft interessierte Öffentlichkeit bereit und - sofern es ein Forschungsinstitut
betreibt - findet an diesem Ort auch die grundsätzliche Übung statt, Dokumente in
einen Kontext zu setzen, neue Fragen, neue Perspektiven zu entwerfen. (Copyright Annette Steinsiek)
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